Die heuer erreichte Zehntausender-Marke in der seit Jahrhunderten ansteigenden Bevölkerungskurve Lustenaus gibt Anlaß, kurz Rückschau zu halten über die Entwicklung unserer kräftig emporstrebenden Gemeinde.
Bis zum Beginn der Industrialisierung, dem Anlaufen der Stickerei im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, war Lustenau ein Bauerndorf, dessen Bewohner im wesentlichen von dem leben mußten, was sie aus ihrem dem Rhein und dem Ried in zähem Kampfe abgerungenen Boden herauszuwirtschaften vermochten. Die besten Äcker und Wiesen lagen im zentralen Flurstreifen zwischen den sieben alten Parzellen Wiesenrain, Grindel (Oberloch), Weiler Rheindorf, Hag einerseits und Holz, Stalden andrerseits, also auf Büngen, im Oberfeld, Widum, Winkel, Steinacker, Kapellenfeld, Engach und in der Grundwies. [Siehe Karte]. Hier lagen die großen Hofäcker oder Breiten des ehemaligen Königshofes, auf dessen besonderen Vorrechten die bis 1806 und in ihren letzten Auswirkungen bis 1830 reichende politische Sonderstellung des freien Reichshofes und seit 1807 gräflichen Patrimonialgerichtes Lustenau beruht haben.
Der Königshof Karls des Dicken, der im Jahre 887 ins Licht der Geschichte eintritt, umfaßte auch noch die linksrheinischen Gebiete von Widnau und Au (Haslach). Er bildete innerhalb des Rheingaues einen eigenen Hochgerichtsbezirk und behielt diese Eigenschaft als ehemaliges Krongut auch unter den Besitznachfolgern des Königs, den alten Grafen von Bregenz und ihren Erben, den Montfortern und Werdenbergern und den Rittern und Reichsgrafen von Ems zu Hohenems bei, die ihn 1395 zunächst als Pfandschaft und 1526 als freies Eigentum von dem letzten Grafen von Werdenberg erworben und bis zu ihrem Aussterben im Mannesstamm im Jahre 1759 ungestört besessen haben. Als freie Reichsgemeinde genoß Lustenau unter den Herren von Ems ein ziemlich weitgehendes Maß von Selbstverwaltung. Das Hofgericht konnte in 1. Instanz die niedere Gerichtsbarkeit ausüben, die hohe oder Kriminalgerichtsbarkeit über Leben und Tod aber stand dem Grafen zu, der die Prozeßführung durch das Oberamt in Ems überwachen ließ und das Begnadigungsrecht ausübte. Ohne seine Bestätigung durfte das aus dem Hofammann, 12 Richtern und dem Waibel bestehende Lustenauer Gericht keinen zum Tode verurteilten Verbrecher hinrichten lassen. Die Hinrichtung mußte aber auf Lustenauer Grund und Boden vollzogen werden.
Eifersüchtig hüteten die Lustenauer dieses Vorrecht gegen Übergriffe. Als das gräfliche Oberamt im April 1735 Anstalten traf, die an dem «Wissen Rhein», also im Lustenauer Gemeindebezirk verhafteten Malefikanten nicht auf der ihnen zuständigen Gerichtsstatt, sondern in Ems selbst hinrichten zu lassen, protestierte Gericht und Gemeinde bei einem kaiserlichen Notar gegen diese Neuerung. Die Protestschrift, deren Original leider nicht mehr erhalten ist, war mit dem «gewohnlichen Gemeindt- und Gerichts Insigel» versehen. Das ist die erste Erwähnung eines eigenen Gerichts- und Gemeindewappens. Sonst siegelte meist der Hofammann selbst die Urkunden des Reichshofes mit seinem eigenen Siegel. Das erste noch erhaltene Gemeindesiegel datiert vom 9. Oktober 1769. Es ist auf einem Zeugnis angebracht, das Hofammann und Gericht des Reichshofes dem Jakob Bösch ausstellten, dem durch einen außerordentlich schweren Hagelschlag und lang andauernden Regen «sein gepflanztes Welschkorn und Grundbieren gänzlich zerschlagen und verschwemmt» worden waren. Der uns heute geläufige Löwe mit den drei Ähren findet sich zum erstenmal am 6. April 1827 als Gemeindesiegel auf einer Pfandbestätigung. Nach den Satzungen des ältesten noch vorhandenen Hofrechtes von 1536 fand die Ammann- und Gerichtsbesetzung noch alle Jahre im Mai statt, jeder im Hof hausende Hofmann durfte dem gnädigen Herrn in Ems vier Mann Vorschlägen, jedoch keinen Leibeigenen. Aus dem Vierervorschlag setzte der Herr einen zum Ammann und die übrigen drei zu Richtern ein. Solange Widnau und Haslach noch im Lustenauer Gericht vertreten waren (bis zur Hofteilung von 1593) wurden ihnen je zwei Hofmänner als Richter zugebilligt. Die Leibeigenen waren mit vier Mann vertreten. Nach der Hofteilung von 1593 blieb die Zwölfzahl der Richter und Beisitzer auch für Lustenau allein erhalten. Die Ammann- und Gerichtsbesetzung fand aber in der Folgezeit nur mehr alle zwei Jahre statt.
Bei einem Herrscherwechsel in Hohenems fand jeweils eine feierliche Landeshuldigung statt, bei der die Untertanen dem neuen Landesherrn feierliche Treue schworen, der Herr hingegen ihnen ihre wohlhergebrachten Freiheiten und guten Gewohnheiten bestätigte und ihnen versprach, sie dabei zu schützen und zu schirmen.
Nach dem Aussterben des gräflich hohenemsischen Mannesstammes (1759) ließ sich das Erzhaus Österreich. vom Kaiser mit der Reichsgrafschaft Hohenems belehnen (1765) und beanspruchte auch die Landeshoheit über den Reichshof Lustenau, den es als Bestandteil der Grafschaft betrachtete. Die von Österreich erzwungene Landeshuldigung fand am 8. Mai 1767 in Lustenau statt. Die einzige Tochter und Erbin des letzten Grafen, Gräfin Maria Rebekka, vermählte Harrach, führte vor den obersten Reichsbehörden einen jahrzehntelangen Prozeß zur Wiedererlangung der ihr widerrechtlich entzogenen Hoheitsrechte. Die in der ersten Periode der österreichischen Herrschaft über Lustenau durchgeführten mannigfaltigen Reformen im Sinne des aufgeklärten Absolutismus Kaiser Josefs II. waren nicht darnach angetan, die Sympathien der Lustenauer zu gewinnen. Während der damaligen «Staatsvertragsverhandlungen» befürchteten sie einen endgültigen Ländertausch und gaben 1786 der Befürchtung Ausdruck, es könnte sie «das Los treffen, unter den österreichischen Zepter zu kommen». Im Juni 1789 gab es sogar eine Revolte gegen die besonders mißliebigen kirchenpolitischen Verordnungen. Als dann aber der lange hinausgeschobene Staatsvertrag im November 1789 doch noch zugunsten der Gräfin ausfiel, sprachen sie ihr gegenüber vom unschätzbaren Glück, unter dem milden Szepter einer erhabenen Landesregentin mit Gehorsam, tiefer Ergebenheit, zugleich auch mit Vertrauen stehen zu dürfen, von ihr weise, gerecht und gütig regiert zu werden. und nannten die eben verflossene Zeit die leidige Epoche der Verwirrung, für welche der durch so mancherlei Abwechslung und verschiedene Verordnungen in seinen Pflichten irre gewordene Untertan Entschuldigung verdiene, wenn er vormals aus den Schranken der schuldigen Ehrfurcht und des Gehorsams zu treten Miene gemacht habe. Sie baten ihre Landesmutter auch, ihre Landesverfassung durch Modifizierung ihres mit vielen, dermalen unnützen Sachen angefüllten Hofbuches auf einen für den in- und ausländischen Kredit dienlicheren Fuß zu bringen und diesem Kredit durch weise Gesetze und sichere Justizpflege aufzuhelfen, da gute Ordnungen die Seele eines jeden Landes seien. Maria Rebekka erfüllte diese Wünsche durch die Herausgabe neuer guter Satzungen für den Reichshof, wofür ihr die damit beglückten Untertanen im Oktober 1792 eine begeisterte Huldigung darbrachten.
Die bösen Erfahrungen in den darauffolgenden Franzosenkriegen, in denen sie noch mehr Bedrückung und Not auszustehen hatten als ihre österreichischen Nachbarn und, von allen Seiten verlassen, höchstens einen Mitleider, aber nirgends einen Helfer und Unterstützer fanden, und ihnen vom Schwäbischen Kreis trotz ihrer «unsäglichen Privaterlittenheiten» noch unerschwingliche Auflagen aufgebürdet wurden, brachte in ihnen einen immer stärkeren Anschlußwillen an das besseren Schulz bietende, mächtige Österreich hervor. Der Reichsdeputationshauptschluß vom 25. Februar 1803, der die Auflösung des alten Deutschen Reiches einleitete. veranlaßte die verantwortlichen Männer der Gemeinde. Hofammann Joachim Höllenstein'und seine Geschworenen. in einer Bittschrift den Kaiser Franz im Namen aller Mitbürger zu bewegen, sie durch Kauf oder Tausch zu k. k. Untertanen aufnehmen zu wollen. Darin heißt es: «Die Gemeinde des in dem Vorarlbergischen gelegenen Reichshofes Lustenau wünschte schon lange, von ihren Verhältnissen mit dem Deutschen Reiche befreit und unmittelbar unter den allergnädigsten Schutz und die milde Regierung Eurer Mt. aufgenommen zu werden.»
Statt der ersehnten österreichischen erfolgte zunächst zufolge des Preßburger Friedens 1806 die bayrische Zwischenherrschaft bis 1814. Der am 18. April 1806 verstorbenen Gräfin Maria Rebekka folgte ihre einzige, mit Graf Klemens von Waldburg-Zeil vermählte Tochter Maria Walburga als Erbin der Lustenauer Gerechtsame nach. Im Zuge der unter Bayern durchgeführten Neuorganisation des Landes Vorarlberg wurde auch das bisherige Gericht in Lustenau aufgelöst und 1807 in Hohenems ein königlich bayrisch-gräflich waldburgisches Patrinionial-Gericht über den ehemaligen Reichshof Lustenau eingerichtet, das nun fortan die bürgerliche Gerichtsbarkeit ausübte, also z. B. für Verlassenschaften, Waisensachen, Kauf- und Tauschverträge, Testamente, Zeugenverhöre und Polizeisachen zuständig war. Die Aufsicht des Patrimonialgerichtes erstreckte sich auch auf die Lustenauer Gemeindeverwaltung, der nur mehr rein ökonomische Angelegenheiten anvertraut waren. Aus dem einst ziemlich selbstherrlichen Hofammann wurde nun ein einfacher Vorsteher und aus den Richtern und Geschworenen des Hofgerichtes wurden Gemeindeausschüsse.
Dieses gräfliche Patrimonialgericht mit dem Sitz in Hohenems blieb auch unter der 1814 wiedergekehrten österreichischen Herrschaft über Vorarlberg bis zum 22. März 1830 erhalten. An diesem Tage erfolgte die restlose Eingliederung in das Landgericht Dornbirn, nachdem der letzte Inhaber, Graf Max von Waldburg- Zeil, freiwillig darauf Verzicht geleistet hatte.
Wie hat sich nun in dieser Zeit die Bevölkerung der Gemeinde entwickelt?
Wir sind in Lustenau in der glücklichen Lage, die Bevölkerungsbewegung an Hand der seit 1613, bezw. 1634 fast lückenlos erhalten gebliebenen Kirchenbücher bis zum heutigen Tag herauf verfolgen zu können. 1613 wohnten in Lustenau 120 Familien, gegen Ende des 17. Jahrhunderts etwa 140, im Jahre 1770, aus dem uns die erste genaue Statistik überliefert ist, 296 Familien in 262 Häusern mit insgesamt 1417 Einwohnern. Das Ansteigen der Bevölkerungskurve seit 1770 ist aus dem beigegebenen Schaubild ersichtlich. Am Ende der reichshöfischen Zeit (1806) standen in der Gemeinde 395 Häuser, 1837 bereits 467 und 1844 schon 544. Einen Aufschwung brachten die Verbesserungen in der Landwirtschaft, die Einführung des Mais- (seit 1713 nachweisbar) und Kartoffelanbaus (1753) sowie des Torfstichs (1758) und die Gewinnung von Neuland im Vorgelände des Rheins in Rheindorf seit 1740, die Einführung der Handweberei um 1780, die Aufhebung der Leibeigenschaft 1795 (1613 gab es 149, 1660 145 leibeigene Personen) und vor allem die Gemeindeteilung von 1806 und 1836.
Die sozialen Abstufungen innerhalb der Bevölkerung erzeugten Spannungen, die oft zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den reichen Besitzern und den armen Hungerleidern führten. Nach Einführung der Volksschulpflicht gab z. B. der Schulhausbau im Jahre 1779 Anlaß zu einer solchen Auseinandersetzung. Es bildete sich eine Partei von hundert Hausvätern, die mit den vom Hofgericht ohne Vorwissen der Gemeinde beschlossenen Umlagen zu diesem Bau nicht einverstanden waren und an die österreichische Obrigkeit eine Eingabe richteten. in der sie folgende Argumente vorbrachten: «Dieses Schulhaus (das heutige Rathaus) ist ein allgemeines Gebäude, für Reiche und Arme bestimmt, deshalb sollten solche allgemeine Kosten und Ausgaben nicht von dem Gemeindegut, sondern durch eine Steuer bestritten werden. Vierzig Haushaltungen können gar kein Vieh wegen Armut auf die Gemeinde austreiben, vierzig nur ein Stück, acht bis zu zehn und fünfzehn bis zwölf oder fünfzehn Stück. Es liegt klar am Tag, daß die Reichen und Habhaften die Gemeind übertreiben und viel größeren Nutzen von ihr beziehen als die Armen.» Ihr Vorschlag ging dahin, jeder Gemeindegenosse solle nur zwei oder vier Stück austreiben, für jedes weitere Stück soll er 2 fl. Trattgeld bezahlen. Dieses Geld wäre dann an das Schulhaus und in Zukunft an allgemeine Hofkosten zu verwenden. Bei dieser Gelegenheit wurde erstmalig die Forderung erhoben, daß die ganze Gemeinde verteilt und jedem Hofgenossen sein Anteil «nach einer Gleichheit» zugestellt werde. Die Opposition setzte sich durch. 1806 wurden noch mit Bewilligung der Gräfin Rebekka die Getneimlegrüttde. hauptsächlich im Ried, verteilt, die Teile blieben aber noch Gemeindceigentum und wurden nach dem Tode eines kinderlosen Inhabers an den ältesten Verehelichten, der noch keinen Teil hatte, weitergegeben.
Die Teilungsgegner versuchten beim Regierupgsantritt der Gräfin Walburga die Teilung rückgängig zu machen und gaben der Befürchtung Ausdruck, daß durch die Gemeindeteilung der allgemeine Viehaustrieb ganz oder doch eher erschwert werde, und meinten, eine Einschränkung des Viehstandes würde die Folge sein. Die junge Gräfin half aber dem «doch so bekannten, thätigen und arbeitsamen Lustenau» durch Überlassung der Alpen Priedler und Schönemann aus der Klemme und verzichtete auf alle Zehentabgaben. Die Vermögenslage der 424 Hofbürger von 1806 war folgende: Die erste Vermögensklasse bestand aus zwölf Bürgern mit 3000 bis 14.000 Gulden reinem Vermögen, dazu wurden auch noch 95 mit 1000 bis 3000 Gulden gerechnet. Die mittlere Klasse setzte sich aus 172 Bürgern mit 100 bis 1000 Gulden und die dritte Klasse aus 145 Bürgern ohne reines Vermögen zusammen, davon hatten hundert kein einziges Stück Vieh. 1834 wurden die 1806 verteilten Gemeindegründe in das Eigentum der Inhaber übergeführt und den vielen neuen Anwärtern 1836 die bis dahin noch unverteilten Gemeindegründe längs des Rheins zugeteilt (Badloch, Neufeld, Hasenfeld bis Eglenfeld).
Das weitere Anwachsen der Bevölkerung Lustenaus wurde dann in erster Linie durch die Einführung und den intensiven Ausbau der Stickereiindustrie beschleunigt. Die guten Verdienstmöglichkeiten lockten dann aber seit etwa 1890 auch viele auswärtige Arbeiter und Gewerbetreibende in das 1902 zur Marktgemeinde erhobene rührige Gemeinwesen am jungen Rhein an. Trotz dieser Zuzügler blieb aber der Grundstock der Bevölkerung doch noch erstaunlich bodenständig. Lustenau weist auch heute noch die stärksten Geschlechter des ganzen Landes auf, von denen manche allein ein großes Dorf bevölkern könnten.
Die Hämmerle zählen derzeit 1028 Personen, die Bösch 752, die Grabher 582 ohne die 66 Grabher- Meier, die Hagen 489, die König 315, die Höllenstein 290, die Fitz 283, die Alge 267, die Hofer 252, die Riedmann 249, die Vogel 232, die Scheffknecht 228, die Vetter 170, die Holzer 125, die Sperger 122, die Kremmel 114, die Isele 61, die Huber 52, die Ritter 47, die Schreiber 42, die Jussel 28. Diese Geschlechter zusammen umfassen also 5794 von heute 10.005 Einwohnern. Diese außergewöhnliche Stärke der alten Lustenauer Geschlechter wird einem verständlich, wenn man bedenkt, daß die meisten davon schon seit dem Mittelalter oder doch seit dem 16. und frühen 17. Jahrhundert hier ansässig sind: die Hämmerle und Bösch urkundlich nachweisbar seit 1393, die Hagen seit 14ll, die Grabher und Scheffknecht seit 1436, die Vogel seit 1464, die Fitz seit 1476, die Hollenstein seit 1478, die Vetter seit 1502, die Riedmann und Hofer seit 1530, die Ritter seit 1540, die König (früher Küene) und Holzer seit 1613, die Kremmel seit 1695, die Isele seit 1755, die Jussel seit 1756.
1947 befanden sich unter 9579 Einwohnern 78 Südtiroler,
145 Reichsdeutsche und 309 andere Ausländer.
Gegenüber andern großen Gemeinden des Landes ist
Lustenau von dem kriegsbedingten Ausländerzustrom
verhältnismäßig wenig betroffen worden.
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